Die Legende des Galgen- bzw. Hühnerwunders




 

Mit der Beschreibung und Einordnung des sogenannten Galgen- oder Hühnerwunders wollen wir Ihnen die Wandmalereien im Lnaghaus der St.-Jodok-Kirche weiter vorstellen.fortsetzen. 

Dieser aus zwölf Szenen bestehende Bilderzyklus (die Bilder eins, Gebet vor der Abreise und  zwei, Die Ankunft in der Herberge, sind durch die Chorempore abgedeckt) beschreibt eine Legende, die von der Fürsprache des heiligen Jakobus bei Gott handelt.

Bekanntermaßen zum ersten Mal schriftlich festgehalten wurde die Legende im Liber Sancti Jacobi oder Jakobsbuch. Dieses auch unter der Bezeichnung Codex Calixtinus bekannte Werk entstand aus der Feder verschiedener Autoren im frühen 12. Jahrhundert in Spanien und befindet sich heute im Archiv der Kathedrale von Santiago de Compostela.
Das Buch besteht aus fünf Teilen, die alle in einer mehr oder weniger deutlichen Verbindung zum heiligen Jakobus und der Wallfahrt zu seinem Heiligtum stehen.
Dessen zweiter Teil enthält 22 Erzählungen von Wundern, die Jakobus zugeschrieben werden, wovon viele dieser Geschichten von Pilgern handeln, die auf ihrer Wallfahrt in Not und Schwierigkeiten geraten waren. Die fünfte Legende bezeichnet als:

Von dem gehängten Pilger, den der selige Apostel nach 36 Tagen am Galgen vom Tode erlöste. Ein Exemplum vom hl. Jacobus, aufgezeichnet durch Papst Calixtus,
ist die literarische Vorlage unserer Bilderfolge.
In einer deutschen Übersetzung des Liber Sancti Jacobi finden Hans-Wilhelm Klein und Klaus Herbers dazu folgende Worte:










»Es ist zu berichten, dass im Jahre 1090 nach Christi Geburt einige Deutsche im Pilgergewand zum Grabe des seligen Jacobus unterwegs waren. Sie kamen mit großen Reichtümern bis zur Stadt Toulouse und fanden dort bei einem reichen Manne Unterkunft. Dieser aber heuchelte hinterlistig, wie ein Wolf im Schafspelz, große Harmlosigkeit, nahm sie geziemend auf, machte sie dann jedoch, scheinbar als Zeichen der Gastfreundschaft, mit verschiedenen Getränken in betrügerischer Absicht betrunken. Welch blinde Habgier, welch nichtswürdige Neigung des Menschen zum Bösen! Schließlich waren die Pilger vom Schlaf und Rausch völlig übermannt. Der falsche Gastgeber aber, von Habgier angestachelt, steckte heimlich einen silbernen Becher in das Gepäck der Schlafenden. Er wollte sie damit als des Diebstahls schuldig überführen und dann ihr Geld einheimsen. Nach dem ersten Hahnenschrei verfolgte der ungetreue Gastgeber mit einer Handvoll bewaffneter Männer die Pilger mit dem Ruf: »Gebt mir meine gestohlene Habe wieder! « Darauf erhielt er von ihnen als Antwort: »Wenn du das Gestohlene bei einem findest, soll er nach deinem Gutdünken verurteilt werden.«

Es fand also eine Durchsuchung statt und bei zweien, Vater und Sohn, fand er in ihrem Gepäck den Becher. Widerrechtlich beschlagnahmte er ihre Habe und schleppte sie vor das öffentliche Gericht. Der Richter aber war von Mitleid gerührt und verurteilte einen zur Todesstrafe, der andere sollte frei sein. O ergreifende Vater- und Kinderliebe! Der Vater wollte, dass sein Sohn freigesprochen werde und dass man ihm das Todesurteil zuspreche. Der Sohn dagegen sagte: »Es ist unbillig, dass der Vater an Stelle des Sohnes dem Tode ausgeliefert wird. Vielmehr muss der Sohn für den Vater die verhängte Strafe erleiden.« Ein bewundernswertes Beispiel gegenseitiger Hingabe! Schließlich wurde der Sohn nach seinem Wunsch um den geliebten Vater zu befreien, erhängt. Der Vater aber setzte weinend und trauernd seinen Weg zum hl. Jacobus fort.

Nachdem er den ehrwürdigen Altar des Apostels besucht hatte, kehrte der Vater nach 36 Tagen zurück und machte einen Umweg zu dem noch immer am Galgen hängenden Leichnam seines Sohnes. Er rief unter Tränen und Seufzen und mitleiderregendem Stöhnen:  »Weh mir, mein Sohn, wozu habe ich dich gezeugt, warum dich aufgezogen, den ich jetzt doch hängen sehe?“ Aber wie großartig sind deine Werke, o Herr! Der Gehängte tröstete seinen Vater und sprach:« Traure nicht, herzgeliebter Vater, über meine Qual, die keine ist, sondern freue dich lieber, denn er geht mir jetzt besser als bisher in meinem vergangenen Leben. Der selige Jacobus hat mich mit seinen Händen gestützt und wärmt mich voller Milde.“










Auf diese Worte hin eilte der Vater in die Stadt und rief das Volk auf, dieses Gotteswunder zu schauen. Sie kamen herbei, sahen, dass der Gehängte nach so langer Zeit noch lebte und erkannten jetzt, dass er wegen der unersättlichen Gier des Wirtes angeklagt worden war, durch Gottes Erbarmen aber gerettet. Dieses ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder in unseren Augen. Sie nahmen ihn also unter großem Jubel vom Galgen ab. Den Wirt aber verurteilten sie verdientermaßen zum Tode und hängten ihn auf der Stelle auf.

Demzufolge sollen alle, die als Christen gelten wollen, mit großer Sorgfalt darauf bedacht sein, niemals ihren Gästen oder überhaupt ihren Nächsten gegenüber einen solchen Betrug zu begehen. Sie sollen vielmehr den Pilgern Mitgefühl und freundliche Zuneigung erweisen, auf dass sie den Lohn der ewigen Glorie von dem empfangen, der als Gott lebt und regiert in alle Ewigkeit. Amen.«

Die Legende wurde in späteren Jahrhunderten in die Legenda Aurea, dem Mittelalterlichen Standartwerk für Heilige und deren Lebensgeschichte aufgenommen und je nach Geschmack und Ausgabe um Ereignisse und Personen erweitert.

Von einer dieser volkstümlichen Erweiterrungen handelt der Bilderzyklus in der Überlinger St.-Jodok-Kirche. So wurde dem ursprünglichen Galgenwunder ein weiteres, das sogenannte Hühnerwunder angefügt.
Das angeschlossene Hühnerwunder schildert in drastischer Darstellung die Begebenheit im Hause des Richters, nachdem die Pilgerfamilie nun um die Mutter bereichert, erkannt hatte, dass ihr Sohn noch am Leben war. Der Richter, beim Mittagsmahl gestört und unwillig, tat das Gehörte als Unsinn ab und prophezeite: »Eher fliegen die gebratenen Hühner vom Spieß in die Freiheit, als dass euer Sohn noch am Leben sei!« Kaum gesagt fangen die Hühner am Bratenspieß zu flattern an und fliegen durchs offene Fenster in die Freiheit.

Diese volkstümliche Erweiterung war scheinbar nachhaltiger als das eher spirituelle Wunder des Überlebenden am Galgen. Der, heute würde man sagen, Show-Faktor der spektakulär davonfliegenden Hühner blieb den Menschen der frühen Neuzeit offensichtlich besser im Bewusstsein.
Auch das anschließende Einfangen der Hühner und deren Domizilierung in der Kathedrale, in diesem Fall in der von Santo Domingo de la Calzada, erweiterte die Legende erneut und verlegte sogar deren Handlungsort.

Die Verlegung der erweiterten Legende von Toulouse nach Santo Domingo de la Calzada deutet darauf hin, dass das Pilgern ein erheblicher Wirtschaftsfaktor für die Städte des Jacobsweges war. Man wollte die Gunst der Pilger für sich gewinnen und schuf Anreiz, auf sich aufmerksam zu machen. (Viel hat sich da in den letzten 1000 Jahren nicht geändert!)

Die Nachkommen der vom Spieß entflohenen Hühner leben noch heute in der Kathedrale und bewirke, dass zahlreiche Pilger dem Ort einen Besuch abstatten……








E
in
Versuch kunstgeschichtlicher Einordnung






Hans Rott versucht in seinem Buch über die Kunstgeschichte des Südwestens im 15. und 16. Jahrhundert von 1937, den Namen Carrer mit der Entstehung des Wandzyklus in Verbindung zu bringen. Weiter soll nach seiner nicht näher ausgeführten These der aus Radolfzell stammende, und in Überlingen seit 1441 das Bürgerrecht inne habende Schnitzer und Maler Konrad Bitzer sowie dessen Sohn und Werkstattnachfolger Anton mit dem nicht weiter bezeichneten Carrer in enger geschäftlicher Beziehung gestanden haben. Die Zusammenarbeit bezieht sich besonders auf die 80er Jahre des 15. Jahrhunderts.
Allerdings erscheint die Quellenlage hoch spekulativ und bedarf einer weiteren wissenschaftlichen Untersuchung.

Die Malweise des Zyklus erinnert stark an die im 15. Jahrhundert entstandene Holzschnittkunst. Bei dieser Technik wird besonders das Wechselspiel zwischen der die Form umschließenden Konturlinie und der daraus entstandenen Fläche betont, die je nach Auffassung farbig ausgefüllt werden konnte. Bezeichnend für den Holzschnittstil ist seine hervorgehobene Realistik, die zuvor wenig Verwendung fand.
So werden die dargestellten Personen nicht mehr idealisiert, sondern tragen individuelle, ja selbst die Persönlichkeit charakterisieren Züge. Auch finden Darstellungen alltäglicher Handlungen Einzug in die Bildauffassung.
Die Freude am Drastischen bringen beispielsweise die Hinterteile der davon fliegenden Hühner oder das Aufknüpfen des Wirtes am Galgen zum Ausdruck. Die Darstellung des Teufels über dem Galgen lässt keine Zweifel offen welches Schicksal dem Wirt bevor steht.
Die in der italienischen Renaissance entwickelte Zentralperspektive wird in Grundzügen angewandt, nicht jedoch völlig beherrscht.

Zu erkennen sind auch Reste  mittelalterlicher Symbolsprache. So wehen die Gewandzipfel des am Galgen aufgehängten Jüngling nach allen Himmelsrichtungen. Dies soll bedeuten: »Hier spricht Gott«, zu ergänzen wäre: »ein anderes Urteil«. Auch findet man auf derselben Bildtafel links über dem Gehängten einen Vogel, der symbolisch den Himmel und die in ihm wohnende Wahrheit bezeugt.
Zufall oder Konzept: Der Heilige Jakobus ist durchgängig schwarz-weiß figuriert. Auch die Pilgerfamilie teilt durchgängig diese Auffassung. Die weiße Farbe steht im Christlichen Sinne für Erlösung und Auferstehung, sowie Klarheit und Reinheit.

Die starke Nähe zu der damals modernen Holzschnitt- Auffassung deutet als Gestalter des Wandzyklus in den Umkreis der Bitzer Familie hin. Anton Bitzer betrieb nachweislich in Überlingen eine Schreibstube und war somit auch als Buchillustrator mit der modernen bildlichen Darstellungsweise vertraut.

Da der Bilderzyklus des Hühnerwunders zudem lediglich als Wandbild aufgetragen ist,  verspricht diese Spekulation einen hoffentlich weiterführenden Ansatz.




































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